Lebensstreiflichter. Kurzgeschichten. Texte.

Hier öffne ich das Schatzkästlein für Geschichten aus dem Leben. Schmökern Sie in den Kostproben meiner Texte. In den Streiflichtern unseres Daseins. Unzählige Momente formen unser Leben. Es sind oft die kleinen, funkelnden Brillianten des Alltags. Hier dürfen sie leuchten. 

Was für eine Frauenpower!

Dokumentarfilm "Ihr Jahrhundert - Frauen erzählen Geschichte", von Uli Gaulke

Ich bin sehr froh, diesen wunderbaren Film gesehen zu haben. Viel zu kurze 100 Minuten lang konnte ich Einblick nehmen, in das Leben von fünf Frauen verschiedener Kontinente, die alle ungefähr ein Jahrhundert auf dieser Erde erlebt haben. Den Erzählungen jeder einzelnen hätte ich liebend gerne jeweils einen ganzen Abend gelauscht. Auch wenn die Dokumentation den verschiedenen Leben nicht allzu viel Raum schenken konnte, verließ ich doch froh und beschwingt das Kino, angesteckt von der Energie, die all die Damen auch im hohen Alter noch ausstrahlen. Die nicht müde werden, Ideen oder Projekte in ihren Herzen zu bewegen. Sie wollen tun, wollen wirken, so lange sie am Leben sind. Das ist ihr Lebenselexier.

Wie lohnend und bereichernd sind sie, diese biografischen Geschichten. Spannend und inspirierend. Sie lassen mich mitgehen, mein eigenes Leben ins Verhältnis setzen. Und lernen. Immer wieder neu.
Die fünf hier im Film vorgestellten Protagonistinnen eint ihr Drang, sich zu emanzipieren, in Regionen und Zeiten, da dies noch alles andere als selbstverständlich ist. Sie wollen etwas bewegen, etwas in die Gesellschaft hineintragen; wirken weit über ihre eigene Region hinaus. Allerspätestens jetzt, da Regisseur Uli Gaulke ihnen dieses würdevolle filmische Denkmal setzt und sie damit weltweit bekannter werden.
Wir hängen an den Lippen der kubanischen, charismatischen Geschichtenerzählerin Haydée Arteaga Rojas, zusammen mit den Menschen im Film, die ihr gebannt lauschen. Oder sind fasziniert von der körperlichen und geistigen Beweglichkeit der indischen Yogalehrerin Nanammal Amma, die auch weit über neunzigjährig regelmäßig ihre Asanas übt und diese weitergibt. Tamar Eshel, eine in Israel lebende Jüdin, ist ab 1943 für den Geheimdienst tätig und nach dem Krieg teil einer Gruppe, die in Marseille Juden mit falschen Papieren ausstattet und sie, an der britischen Mandatsmacht vorbei, nach Palästina schleust. Später arbeitet sie in der Knesset, dem israelischen Parlament. Nachdenklich wird sie angesichts der nach wie vor ungelösten Konflikte zwischen Juden und Palästinensern; sie hofft auf eine Zwei-Staaten-Lösung. Nermin Abadan-Unat versteht schon früh, dass sie eine gute Ausbildung braucht, um etwas bewirken zu können. Als sich abzeichnet, dass ihre Mutter, mit der sie in Wien lebte, ihr über die Volksschule hinaus keine weitere Ausbildung ermöglichen will, macht sie sich mit fünfzehn Jahren alleine auf den Weg nach Istanbul, dem Wohnort ihres türkischen Vaters. Um dort, unter Atatürk, freien Zugang zu Bildung zu genießen. Sie wird Soziologin, befasst sich viel mit Migrationsthemen und meldet sich bis in die Gegenwart zu politisch brisanten Themen zu Wort. Ilse Helbich lässt sich nach dreißig nicht sehr glücklichen Ehejahren mit etwa sechzig Jahren scheiden und schafft sich mit der Renovierung eines historischen Hofes im Waldviertel ein wunderbares Refugium, um dort in Ruhe zu sein und zu schreiben. 2003, mit achtzig Jahren, veröffentlicht sie ihren ersten Roman, einen von vielen, die sie bis zu ihrem Tod, kurz nach ihrem hundertsten Geburtstag schreibt.
Die Pianistin Colette Maze ist den ganzen Film über musikalisch präsent. Liebend gerne hätte ich über ihr Leben noch mehr erfahren. Ganz am Ende sehen wir sie kurz am Klavier, behände in die Tasten greifend. Mit 109 Jahren veröffentlichte sie 2023 kurz vor ihrem Tod ihre letzte Platte.

Was für spannende Leben! Die Damen haben unsere Menschheitsgeschichte ein Stück mit gestaltet und verändert. So wie wir dies alle tun, egal, wie bedeutend oder unbedeutend wir uns hier auf Erden fühlen. Spätestens, wenn Sie sich mit ihrer eigenen Biografie befassen, werden Sie erfahren, wovon ich spreche.

Filmbesprechung

Mein blaues Köfferchen, mein Teddy und ich.

Als Verschickungskind in St.Peter-Ording. 

Ich war fünf, asthmageplagt und konnte fast nicht mehr schnaufen. Da wurde ich, 1970, im grauen Spätherbst, alleine zu einer 6-wöchigen Kur verschickt. Ans andere Ende der Republik, von der Schweizer Grenze an die Nordsee, nach St.Peter-Ording. Heute undenkbar. Damals fädelte das die Krankenkasse ein. 

Immerhin, ich durfte zum ersten Mal Liegewagen fahren. Meine Leidenschaft für Nachtzüge wurde dort geboren. Auch wenn ich seither auf wohltuende Gute-Nacht-Küsse wieder verzichten muss. Damals ergaunerte ich mir diese von der Betreuerin. „Ich krieg daheim ‚nen Gute-Nacht-Kuss, bitte schön, ich will jetzt hier auch einen haben!“ Praktischerweise lag ich in dem 6-er-Liegewagen in der Mitte, also genau in Kuss-Höhe. 

Eindrücklich ist die Erinnerung an die Ankunft. Wir standen etwas ratlos rum, auf einer riesigen Freifläche, unglaublich viele Kinder, alle mit einem Namensschild um den Hals. Und warteten. Mein blaues Köfferchen hielt ich fest in der Hand, mit meinem Teddy drin. Da konnte mir nix passieren. Irgendwann wurden wir dann verteilt, auf die unterschiedlichen Häuser. Ich kam ins Haus Köhlbrand, in eine wunderschöne alte, knorzelige Villa, in meiner Erinnerung riesig. Inzwischen abgerissen. 

Angst oder Heimweh hatte ich wohl nicht. Es gab so viel Neues, Interessantes. Nur einmal hab ich sehr geweint. Beim Strandspaziergang sammelte ich Muscheln in einer Papiertüte. Die wurde von der Feuchtigkeit weicher und weicher. Bis sie riss und alle Muscheln auf den Strand fielen. Die Betreuerin sagte nur „los, los, los, wir müssen weiter“ und ich musste alle zurücklassen. Warum hab ich von diesem Aufenthalt keine einzige Muschel mit nach Hause gebracht, obwohl wir noch oft am Strand waren? Ich weiß es nicht.
Spazieren gehen war unsere Hauptbeschäftigung, stundenlang am Strand entlang. Andere Programmpunkte erinnere ich nicht. Weder Spielen noch Malen. Nur Freitags, da wurde gebadet. Danach gabs in Scheiben geschnittene Bananen. Eine alte Omi hat Klavier gespielt und wir mussten volkstanzähnliche Sachen machen.
Nach dem Mittagsschlaf war Teestunde, mit Butterkeksen. Ich hielt mich gerne an die großen Mädchen. Die waren für mich vertrauenserweckend. Wir spielten „Keks durchbrechen und wieder zusammenstecken“. Und raten, „ist der Keks heile oder nicht heile?“ Das Wort „heile“ kannte ich nicht. Ich fand es kurios. Wie überhaupt diese so andere Sprache der norddeutschen Kinder. Mir gefiel es, mit ihnen zusammen zu sein.

Ansonsten erinnere ich vor allem Gerüche. Die süße Pudding-Vanille-Suppe. Damit sollten wir Kinder wohl gemoppelt werden.
Die sanitären Anlagen stanken fürchterlich. Vielleicht wusch ich mich deswegen nicht? Oder, weil alle Kinder im Waschraum nackt waren, ich das aber nicht wollte? Ich behielt meine Hose an. Es interessierte niemanden. Entsprechend sah meine Unterhose aus. Zum Glück gab es wenigstens die wöchentliche Badestunde.
Ab und an hab ich noch heute den für mich speziellen St.Peter-Ording-Geruch in der Nase. Eine Kombination aus Meeresfrische und Heizöl. „Wie konnte das sein, in einem Luftkurort!?“ Die Antwort gibt die Zeit, 1970. Da waren Ölheizungen der Normalfall. Und die Autos Dreckschleudern.
Das Reizklima am Strand muss dennoch seine Wirkung gehabt haben. Meine Allergien hatten sich durch die Kur gebessert. Ich konnte wieder durchatmen.
Ein selbst gedichtetes Lied blieb noch eine ganze Weile mein Erinnerungsanker. Mit dem Gesumme rief ich die Kur in mein Gedächtnis zurück. „Wenn ich das Liedchen immer sing, dann denk ich an die Kur … an den langen Flur …“ und ich war stolz darauf, dieses Abenteuer ganz allein bewältigt zu haben.

Lebensminiatur (Ulrich)

Lebenserinnerungen in Buchform.

Ausschnitte aus einer Biografie. Autorin Doris Wieler. 

Ein Tag im Januar 1935. Ein Paar, um die dreißig, braust geschwind mit dem PKW von Zossen nach Berlin, in ein Krankenhaus nach Wilmersdorf. Zum Glück ist es keine Krankheit, die sie dorthin treibt, sondern ein freudiges Ereignis. Die bevorstehende Geburt ihres ersten Kindes[...]

Die ersten Nachkriegsjahre sind Hungerjahre. Die Großmutter verzichtet immer wieder auf ihre Mahlzeiten, zugunsten der heranwachsenden Enkel. Sie selbst wird immer schmaler, ihr Gesicht wirkt eingefallen. Weit entfernt von der Figur einer "stattlichen Matrone", an die sich Dieter aus früheren Jahren erinnert[...]

Extrem frostig ist es im Winter 1946/1947, einem der kältesten des 20. Jahrhunderts, mit monatelangen Temperaturen weit unter Null. Kohle und Holz werden knapp. Die Zossener Jungs gehen zusammen auf Kohle-Klau. Ein echtes Abenteuer. Auf Güterzügen, in offenen Waggons, wird das Heizmaterial nach Berlin transportiert. Immer wieder halten die Züge in der Nähe, auf freier Strecke. Die Gelegenheit, an Brennstoff zu kommen. In der Abenddämmerung, bei Halt eines Zuges, klettern die Jungs auf einen Waggon und werfen die Kohlebriketts runter. Helfer sammeln sie ein. Und dann, beim ersten Anfahren des Zuges, gilt es, schnellstens herunter zu springen und gemeinsam die Beute auf Handwagen in Sicherheit zu bringen[...]

Im Hause H. wird gerne gefeiert. Vor allem von dem Moment an[1952], als die Familie endlich wieder ein eigenes, neu erbautes Haus bewohnt. An dessen Innenraum-Planung Dieter gerne mitwirkt. Bruder R. sorgt für die Einrichtung eines Partykellers. Und gibt den "maitre de plaisier". Dieter, inzwischen schon ausgezogen, verpasst keines dieser Feste. Der Vater lässt den Nachwuchs gerne feiern und gesellt sich gelegentlich für ein Tänzchen hinzu[...]

Ab September 1969 unterrichtet Dieter Deutsch an der Aristoteles Universität in Thessaloniki [...] Er kann das Häuslein einer Kollegin mieten. Samt ein paar brauchbarer Möbel. Auch ein winziger Garten gehört mit dazu [...] Enge Gassen. Kleine Häuschen. Einst errichtet für die griechischen Flüchtlinge, die Anfang der 1920er-Jahre aus der Türkei fliehen mussten. Den letzten, charmanten Schliff bekommt die Wohnung durch Dieters mitgebrachte Schätze aus Beirut. Viel Leder. Teppiche [...] Orientalische Kupferplatten als Tischchen. Auf den Basaren erworbene Dekorationsstücke. Sehr gemütlich eingerichtet. Gäste aus nah und fern schauen immer wieder gerne rein [...] Dieter liebt die Besuche[...]

Dieter kann dem Leben nach wie vor [2022] einiges abgewinnen. Auch wenn es sich mehr und mehr in den eigenen vier Wänden abspielt. Wie dankbar ist er da vor allem für sein nach wie vor gutes Augenlicht. Und dem damit möglichen Lesevergnügen. In der letzten Zeit widmet er sich gerne noch einmal der Lektüre klassischer Autoren. Kehrt zurück zu dem Bücherschatz, der in den Regalen ruht. Einfach nur ein Buch aus dem Regal ziehen. Jetzt, beim wiederholten Lesen, berührt ihn die Literatur vielleicht noch tiefer. Und auf jeden Fall mehr als die meisten zeitgenössischen Werke.

Biografie (Dieter). 
März 2023. Gedruckt in 10 Exemplaren, für die Familie und engste Freunde. 

Die Karten werden neu gemischt.

Ein eigentlich langweiliger Tag auf dem Pfadfinderlager.

Ich bin ein Einzelkind. Meine Kindheit erlebte ich sehr zufrieden, zusammen mit meiner Mutter. Zwar war ich viel alleine, während sie tagsüber arbeiten ging. Das muss ich zugeben. Doch fiel es mir eigentlich leicht, mich zu beschäftigen. Vieles interessierte mich, fand ich spannend. Lesen, Zeichnen, Gitarre spielen. Herumstromern. Zusammen mit einem Freund, draußen, am Bach. Unsinn machte ich wenig. 

Natürlich machte sich meine Mutter gelegentlich Sorgen um mich. Oder es plagte sie das schlechte Gewissen, dass sie mich so viel alleine lassen musste. Da kam sie auf die Idee, mich zu den Pfadfindern zu schicken. Zusammensein mit Gleichaltrigen. Das sei doch was für mich! Klar, ich kannte einige der Jungs aus der Schule. Und unser Lateinlehrer war einer der Gruppenleiter. Aber so Viele auf einmal! Und zum Teil waren es echte Rabauken. Das war Stress für mich und nochmal eine ganz andere Herausforderung als in der Schulklasse. Sicher, ich lernte was „für’s Leben“. Fand auch innerhalb dieser Gruppe mit der Zeit meinen Platz. Als einer der Stilleren, Zurückhaltenderen, als einer, der lieber aus einer sicheren Distanz beobachtete. Oder zum abendlichen Gesang am Lagerfeuer die Klampfe spielte. Da freuten sich alle am „Schmitti“. 
 
Ich war 12 Jahre alt, als wir während der Sommerferien ins Pfadfinderlager im Bayrischen Wald fuhren. War es der Psychostress? Oder die Pollenallergie? Oder beides? Ich litt auf jeden Fall unter schwerem Asthma und konnte einige der Wanderungen nicht mitmachen. Kein schönes Gefühl. Ich kam mir vor wie ein Schwächling. Alle anderen strotzten vor Energie. Und ich!? Eine Mimose.
 
Da saß ich also im Lager und hatte nichts zu tun. Hing meinen Gedanken nach. Und plötzlich war das Bild da. Aus den Western, die ich schon zahlreich mit meinem Onkel oder auch mit meiner Mutter geschaut hatte und die ich liebte. Diese coolen Cowboys beim Pokern. Locker mischten sie ihre Karten. Mit der „riffle shuffle – bridge“ Technik, wie ich inzwischen weiß. Das wollte ich lernen. Heute. Jetzt. Sofort. 

Spielkarten gab es. Für unsere abendlichen Mau-Mau-Runden. Ich übte und übte. Stund um Stund. Zwischendurch packte mich Frust, Wut. Ich schmiss die Karten hinter mich. Sie flogen in alle Richtungen. Schimpfend sammelte ich sie wieder ein, machte weiter. 
Am Abend war ich der "king" und konnte die anderen beim Kartenspiel mit meiner neuen Karten-Misch-Technik beeindrucken! Was war ich stolz. 
Ab sofort wurden die Karten neu gemischt. Und ich hatte einmal mehr erfahren, dass sich das Dranbleiben an einer Sache auszahlt. 
 

Lebensminiatur (Martin) 

"Das kriegen'se schon hin!"

Arbeitswelt einer alleinerziehenden Frau in den 1960er-Jahren.

1965 stand ein einschneidender, neuer Lebensabschnitt an. Ich ließ mich scheiden. Was das in den 1960er-Jahren für eine Frau bedeutete, wäre eine eigene Geschichte. Ich stand ziemlich mittellos da, mit meinem dreijährigen Sohn. 

Wie dankbar war ich, zunächst bei meiner Mutter in Neustadt Unterschlupf zu finden. Als diese dann in eine andere Stadt umzog, wurde zunächst ein feuchter, dunkler, zu Schimmelbildung neigender Bungalow unser Zuhause. Harte Zeiten. Bis direkt daneben die kleine Wohnung über der Garage frei wurde, mit Dachterasse. Hell und trocken. Was für ein Glück. Da konnten wir uns wieder wohl fühlen.

Neuer Ort, neuer Job. In meinem eigentlichen Beruf als Buchhändlerin sah es schlecht aus. Aber Sekretärinnen wurden immer gesucht. Nach zwei kurzen Eskapaden in glücklosen Jobs als Schreibkraft bot mir mein Scheidungsanwalt an, als Bürovorsteherin in seiner Kanzlei zu beginnen. Ein Strohhalm, den ich gerne ergriff. Auch, wenn ich von dem Gewerbe anfangs keine Ahnung hatte. Der Anwalt war sich aber sicher, "das kriegen'se schon hin!"

Es glich einer Herkulesaufgabe, ohne Ausbildung als Anwalts- und Notargehilfin. Ein Sprung in sehr kaltes Wasser, in dem ich mich aber schon nach wenigen Monaten wohlzufühlen begann. Ich hatte großen Spaß, mich in die juristischen Themen einzuarbeiten. Verzweifelte Mandanten zu unterstützen. Knifflige Fragen zu lösen. Verantwortung zu tragen. 

Wie dankbar bin ich noch heute über diese tolle Chance. Über das Vertrauen, das mein Chef mir entgegenbrachte. Er war seiner Zeit in einigen Dingen weit voraus. Als mein Sohn mit Masern im Bett lag und ich ihm 3 Wochen beistand, brachte der Chef mir jeden Abend die Arbeit nach Hause. Ich war also, wie man heute sagt, im "homeoffice". Klar, es war stressig. Aber mein Kind krank bei den Nachbarn abgeben? Das wäre keine Option gewesen. Es war schon nicht leicht für mich, ihn so viel sich selbst überlassen zu müssen. Auch, wenn die Nachbarsfamilie ihn liebevoll bei sich aufnahm, als fünftes Kind. Und die Kindergärtnerin ihn morgens mit in den Kindergarten nahm. 

Ich genoss bei der Arbeit viele Freiheiten. Durfte und musste gelegentlich eigene, gewichtige Entscheidungen treffen. Der Chef war entlastet. Konnte die Dinge auch mal etwas entspannter angehen. Und wir fünf Angestellte hatten neben der vielen, gelegentlich unter Zeitdruck auszuführenden Arbeit immer wieder auch vergnügliche Verschnaufpausen. Sobald der Chef Termine bei Gericht wahrnehmen musste, also länger außer Haus war, hieß es bei uns im Büro "Karten raus". Dann spielten wir ein paar Runden "schwimmen", natürlich um Geld. Die Gewinne heimsten wir aber nicht privat für uns ein, sondern steckten sie in ein Kässchen. Polster für kleine gemeinsame private Unternehmungen. Dafür mussten wir allerdings abends auch mal länger bleiben. Bis die Arbeit eben getan war. Es waren lange Arbeitstage, von 8 bis 18 Uhr. Dafür blieb das Büro während der Mittagspausen von 13 bis 15 Uhr für die Öffentlichkeit geschlossen. Für uns alle Gelegenheit zu einem Mittagschläfchen. Auf Sofas und sonstigen Unterlagen. Wie nötig ich diese hatte und wie undenkbar das für die meisten Angestellten heute leider ist. 

Lebensminiatur (Roswitha)